Digitale Transformation und die Erkenntnisse aus der COVID-Krise als Chance zur Bekämpfung des Mangels an Frauen in Führungspositionen?

 

Im Rahmen unserer Interview-Reihe zu Frauen in Führungspositionen haben wir uns mit Prof. Dr. Nadine Kammerlander unterhalten, die als Professorin den Lehrstuhl für Familienunternehmen sowie das Institut für Familienunternehmen und Mittelstand an der WHU – Otto Beisheim School of Management in Vallendar leitet. Zugleich ist sie dort Direktorin für das Thema Diversität. Sie wurde von der Zeitschrift „Capital“ als „Top 40 unter 40“-Persönlichkeit ausgezeichnet und gehört laut der Wirtschaftswoche zu den Top 25 BWL-Professoren unter 40 Jahren. Prof. Kammerlander ist verheiratet, Mutter von drei Kindern und überzeugt davon, dass Frauen sich nicht zwischen Karriere und Familie entscheiden müssen.

 

Prof. Kammerlander, wo stehen wir aktuell Ihrer Meinung nach bei unseren Bemühungen, mehr Diversität in die Managementebene deutscher Unternehmen zu bringen? Was wurde bisher erreicht?

Wir müssen es ermöglichen, dass Frauen ihren Bedürfnissen und Qualifikationen entsprechend ohne Zwang ihre Ziele verfolgen können. Aber wie dies zu erreichen ist, darüber herrscht große Dissonanz. Die einen fordern strikte Quoten, andere fordern konkrete Maßnahmen. Wieder andere sagen, unsere aktuelle Besetzungskultur in Unternehmen sei eine reine Leistungskultur und der Mangel an weiblichen Führungskräften sei allein dadurch bedingt, dass viele Frauen gar kein Interesse daran hätten, in Führungspositionen aufzusteigen – und dass, obwohl Diversität eigentlich gut für Teams aller Art wäre. Die neue Diskussion über Quoten für Vorstandsfrauen zeigt, dass man das Thema auch seitens der Politik stärker forcieren will.

Ich glaube, diese Diskussion hängt auch damit zusammen, wo wir im Moment in Deutschland bezüglich Gleichberechtigung stehen. Wir haben in Deutschland immer mehr Stiftungen und andere Organisationen, die sich mit diesen Themen auseinandersetzen, wie beispielsweise Beyond Gender Agenda oder die AllBright Stiftung. Deren Studienergebnisse sind teilweise sehr ernüchternd. Im Vergleich zu anderen Ländern ist der Frauenanteil in Vorständen in Deutschland gering. Gleiches gilt für den Aufsichtsrat. Es gibt immer noch Unternehmen, die sich bezüglich Frauen im Aufsichtsrat eine Zielgröße von Null vorgeben. Noch gravierender ist es bei Familienunternehmen sowie Unternehmen des Mittelstands, die das Gros der Unternehmen in Deutschland ausmachen. In diesen Unternehmen ist die Anzahl der Frauen in Führungspositionen, genauso wie Vertreter anderer Diversitätskriterien wie zum Beispiel Internationalität, noch weniger stark ausgeprägt. Um Ihre Eingangsfrage zu beantworten: In den letzten Jahren haben wir sicherlich einiges bezüglich Diversität erreicht. Aber es liegt noch ein langer Weg vor uns – vor allem auch was das Bewusstsein für diese Themen sowie konkrete Lösungen anbetrifft.

 

Was ist das Ziel, auf das wir hinarbeiten sollten? Würden Sie das an einer Quote festmachen?

Ich glaube, diese Frage muss man aus zwei verschiedenen Perspektiven betrachten, einerseits aus der Sicht des Individuums, andererseits aus der Sicht der Unternehmen. Ich glaube, aus der individuellen Perspektive muss die Gesellschaft so beschaffen sein, dass jeder und jede sich seiner und ihrer Stärken entsprechend entwickeln und einbringen kann. Aus der Unternehmensperspektive würde ich sagen, dass die Unternehmen so aufgestellt sein sollten, dass sie diverse Perspektiven in ihren Führungs- und Aufsichtsgremien haben – wobei man das nicht unbedingt an fixen Zahlen festmachen muss. Diversität hat viele verschiedene Dimensionen. Geschlecht ist eine davon, Internationalität und Alters-Diversität sind andere. Und diese Diversität braucht es zwingend, um die zukünftigen notwendigen Anpassungen, Krisen und Veränderungen überhaupt zu überstehen. Art und Ausmaß der benötigten Diversität kann von Unternehmen zu Unternehmen ein Stück weit unterschiedlich sein – auch, weil es neben den leicht messbaren Kriterien wie Geschlecht, Nationalität und Alter auch noch Diversität in der Einstellung gibt. Diese ist schwer an einer Quote festzumachen.

 

Wie sehen Sie den Einfluss der fortschreitenden Digitalisierung und der dadurch und durch den Wegfall der Präsenzpflicht entstehenden Flexibilität?

Die Einsparung von unnötigen Reisezeiten bietet eine Effizienzsteigerung und ermöglicht gewissermaßen mehr Kombinierbarkeit von Arbeits- und Privatleben, sodass man einen privaten Termin in den Arbeitsalltag einschieben und anschließend wieder weiterarbeiten kann. Das sind hervorragende Möglichkeiten, die auch vielen Frauen bezüglich ihres Arbeitsstils und ihrer Präferenzen entgegenkommen. Ich zögere trotzdem, das als Allheilmittel zu sehen. Ich merke oft, dass vermehrtes Home-Office in Diskussionen jetzt als der eine ausschlaggebende Treiber von „Diversity“ gesehen wird. Das Problem ist natürlich, dass wir nicht nur eine, sondern viele Ursachen haben, die zu der aktuellen Situation führen. Und wir werden nur dann zu mehr Gleichberechtigung kommen, wenn wir uns allen Themen annehmen. Bleiben wir beim Beispiel Pandemie und Arbeiten von zu Hause aus. Dem ganzen „Zeiteinsparung durch Home-Office“ steht entgegen, dass in Deutschland im Moment die Familien überaus stark in die Pflicht genommen werden: Das Schulmittagessen fällt derzeit aus, die Freizeitgestaltung der Kinder fällt aus und ebenso in vielen Fällen leider auch ein effektiver Unterricht für die Schülerinnen und Schüler. Das zu kompensieren ist nun die gesellschaftliche Erwartung an die Eltern; oft bleiben diese ‚Care‘-Aufgaben traditionell an den Müttern hängen, die damit im Home-Office weniger statt mehr Zeit für ihre Karriere aufwenden können. Der zusätzliche Arbeitseinsatz dieser Mütter ist mehr oder weniger unsichtbar – sichtbar ist hingegen der dadurch bedingte of geringere Einsatz für berufliche Projekte sowie die oft reduzierte Arbeitszeit. Ich denke, dass wir hierfür auf zwei Ebenen Gegenmaßnahmen benötigen. Erstens müssen sich weibliche Führungskräfte dieser Gefahr bewusst sein und müssen versuchen soweit möglich Maßnahmen zu ergreifen, um eben nicht in diese neue Art der Hausfrau-und-Mutter-Falle zu tappen. Andererseits braucht es aber auch Unterstützung von Seiten der Unternehmen und vor allem der Politik. Hier ist insbesondere das Augenmerk auf Infrastruktur – Betreuung, Bildung etc. – notwendig. Wenn Frauen Schwierigkeiten haben, Kinder, Haushalt und Beruf unter einen Hut zu bringen, dann werden sie natürlich auch nicht gewillt sein, den nächsten Schritt in Bezug auf Karriere zu machen. Stattdessen werden sie, wenn sie auf eine neue Führungsrolle angesprochen werden, tendenziell eher ablehnend reagieren – eine Entwicklung, die auch aus Unternehmens- und politischer Sicht nicht gewünscht sein kann.

 

Muss sich da vielleicht auch die Gesellschaft ein Stück weit verändern, damit wir von klassischen Rollenbildern abkommen?

Ja. Ich bin überzeugt, dass das ein absolutes Muss ist, um wirklich langfristig Gleichberechtigung zu erreichen. Alle Dinge, über die wir im Moment diskutieren, wie bspw. die Quote, können nur temporäre Stellschrauben sein, um den Trend in Richtung mehr Diversität zu beschleunigen. Aber ohne gesellschaftliche Veränderung ist das fragil. Die Notwendigkeit zur gesellschaftlichen Veränderung fängt quasi bei den Kindern schon an – nämlich bei der Frage: Was ist eigentlich ein typisches Mädchen, ein typischer Junge (bzw. gibt es das überhaupt)? Was ist ein akzeptiertes Verhalten? Wie werden Kinder incentiviert? Diese Erziehung und Sozialisierung wirkt sich auf das weitere Verhalten im späteren Leben wie bspw. im jungen Erwachsenenalter aus. Ich habe das Glück, dass ich sehr talentierte, motivierte Studentinnen in meinem Hörsaal sitzen habe. Aber auch bei ihnen merkt man teilweise, dass es Unsicherheit bezüglich der eigenen Lebensgestaltung gibt.

Ein Beispiel dazu aus meiner Zeit in Sankt Gallen: Damals sagte mir eine Studentin, es mache für sie keinen großen Sinn, sich in die Projektarbeit reinzuhängen, weil sie sich am Ende doch zwischen Familie und Beruf entscheiden müsse – und ersteres sei ihr wichtiger. Mir zeigte das: Wir brauchen mehr weibliche Rollenvorbilder, die eben jenen Spagat zwischen Familie und Beruf meistern. Und es braucht mehr Kommunikation zu diesen Themen – wie es beispielsweise aktuell SAP in Teilen sehr vorbildhaft macht. Das Sprechen über erfolgreiche Beispiele kann helfen, die tradierten Rollenbilder zu überholen. Einerseits zeigt das den Frauen: ‚Hey, es geht doch, man kann eine Führungsposition haben und gleichzeitig ein Privatleben – entsprechend den eigenen Vorstellungen.‘ Und andererseits signalisiert das den Männern: ‚Es ist sehr attraktiv, neben Beruf auch Familie intensiv und mit hoher Priorität in das eigene Leben zu integrieren.‘

 

Häufig wird auch die Tatsache thematisiert, dass Frauen schwanger werden und dann lange ausfallen. Wie sehen Sie das?

Ich habe im Jahr 2019 einen Bericht zu Frauen in afrikanischen Familienunternehmen für eine südafrikanische Stiftung verfasst. In diesem Zusammenhang hatte ich ein Interview mit dem Geschäftsführer eines großen, nordafrikanischen Familienunternehmens mit relativ vielen weiblichen Führungskräften. Ich fragte ihn, wie er das erreicht habe und wie er unter anderem mit Mutterschafts-bedingten Ausfällen umginge. Seine Antwort: Dies wäre überhaupt kein Problem. Familienbedingte Ausfallzeiten würden rechtzeitig kommuniziert, sodass das Unternehmen die Möglichkeit habe sich darauf einzustellen. In diesen Fällen wird dann übergangsweise ein Interims-Manager (i.e. Berater oder Beraterin aus großen Unternehmensberatungen) mit jeweils drei Monaten überlapp eingestellt. Damit ist die Funktion durchgehend besetzt, die Führungskräfte können nach ihrer Rückkehr in ihre alten Positionen zurückkehren und die Loyalität und Motivation der Führungskraft sind dauerhaft gestärkt. Auf kurze Sicht ist dies sicherlich etwas teurer, aber langfristig ist dies eine für alle Seiten optimale Lösung. Ich war sehr beeindruckt, da ich im Moment in Deutschland solche kreativen Lösungen noch vermisse.

 

Glauben Sie, dass dieser Umstand des flexiblen Arbeitens nach der Pandemie erhalten bleibt?

Ich glaube, das wird sehr unterschiedlich sein und das wird auch sehr von den einzelnen Unternehmen abhängen. Das ist ähnlich wie mit der Frage, ob unser Mittelstand eigentlich die Pandemie und auch den Trend zur Digitalisierung überleben wird. Ich bin überzeugt, wir werden eine Aufspaltung sehen – einige Firmen werden das nicht überstehen, andere werden gestärkt daraus hervorgehen. Wir werden Unternehmen sehen, die die aktuelle Krise wirklich als Weckruf gesehen haben. Die Unternehmen, die jetzt gesehen haben, dass Arbeit auch aus dem Home-Office sehr gut funktionieren kann und das weiter ausbauen und professionalisieren. Aber es wird auch die Unternehmen geben, die sofort wieder zurückfallen in die alten Muster der Präsenzpflicht. Ich glaube das hängt auch davon ab, wer an der Spitze des Unternehmens steht. Meine ungeprüfte Hypothese hier ist, dass die Unternehmen, die bereits über Diversität in der Führungsspitze verfügen, diejenigen sind, die Arbeiten von zu Hause und andere Formen flexiblen Arbeitens weiter erlauben werden. Und das werden dann auch diejenigen sein, die in Zukunft erfolgreicher sind. Ich glaube zwar, dass wir in Zukunft wieder mehr Reisen sehen werden als jetzt, da sich manche Dinge einfach persönlich besser besprechen lassen. Aber ich glaube auch, dass viele Dinge weiterhin digital bleiben werden, weil wir in den letzten Monaten feststellen durften, dass Videokonferenzen in vielen Fällen sehr gut funktionieren. Das heißt, ich glaube nicht, dass wir die „alte Welt“ von 2019 wieder völlig zurückhaben werden.

 

Was macht denn eine gute Führungskraft in Ihren Augen aus? Was muss denn eine Führungspersönlichkeit mitbringen?

Die Antwort auf diese Frage hängt natürlich teilweise vom Umfeld ab. Also wenn ich eine Produktionshalle leite, dann muss ich als Führungskraft anders agieren, als wenn ich ein Team von jungen Absolventen leite. In meiner Antwort konzentriere ich mich nun hauptsächlich auf Zweiteres. Besonders in den aktuellen Zeiten ist Kommunikation ein Schlüssel-Thema, das immer wichtiger geworden ist. Auch und vor allem im letzten Jahr. Ich meine damit die Kommunikation in beide Richtungen. Zum einen die Kommunikation zu den Mitarbeitenden, zum anderen aber auch die Sensibilität gegenüber Signalen, welche die Mitarbeitenden bewusst oder unbewusst senden. Diesen muss die Führungskraft Raum geben und versuchen, sie zu verstehen. Wie geht’s dem Team eigentlich? Wo stehen wir? Was hindert das Team am Arbeiten? Vor allem in schwierigen Zeiten ist das sehr wichtig. Daneben gibt es aber auch noch viele weitere wichtige Eigenschaften: Begeisterungsfähigkeit, die Leute wirklich für das Thema motivieren, Fairness, die richtige Priorisierung bei Aufgabenverteilungen, vor allem in Zeiten wie der jetzigen, wo teilweise auch eine Überlastung vorliegt.

 

Zum Abschluss, was spricht für mehr Diversität?

Zunächst einmal: Ich bin ein großer Fan davon, gemischte – das heißt diverse – Teams zu haben. Gemischte Teams heißt nämlich auch eine Verbindung von alter Welt und neuer Welt. Ich bin überzeugt, wenn man jetzt sagen würde, wir ersetzen alle bestehenden Führungskräfte durch neue (und diversere), dann hätten wir unserer Wirtschaft nichts Gutes getan. Ich glaube, es ist die Kombination von Erfahrung auf der einen Seite und neuen Perspektiven und Ideen auf der anderen Seite, die zu Erfolg führt. Wenn man sich die Forschung zur Diversität anguckt, stellt man fest, dass bei Standardaufgaben oft homogene Teams schneller und effizienter sind. Hingegen berücksichtigen diverse Teams unterschiedliche Perspektiven und entwickeln kreativere Lösungen und auch die radikaleren und langfristig erfolgreicheren Lösungen. Insofern kann Diversität ein Innovationstreiber sein – was insbesondere in sich schnell wandelnden Märkten immer wichtiger wird.

 

Wir bedanken uns an dieser Stelle noch einmal ganz herzlich bei Prof. Kammerlander für Ihre Kooperation.